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Channel: Politik – Behindertenparkplatz
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An ihren Taten sollt ihr sie erkennen – ein Manifest

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Neulich saß ich mit Alexander in Frankfurt beim Essen. Wir unterhielten uns über die sehr überschaubare Community an Bloggern, die sich behindertenpolitisch äußern, und feixten, dass er, Jule, Raul und ich niemals in einem Auto oder ins selbe Flugzeug steigen dürften. Wenn uns etwas zustößt, gibt es im deutschsprachigen Raum kaum noch jemanden, der behindertenpolitisch bloggt und twittert. Wir mussten zwar darüber lachen, aber eigentlich ist es eher zum Heulen. Wenn wir uns selbst nicht für behindertenpolitische Belange und Barrierefreiheit einsetzen, wer dann?

Und paradoxerweise ist die deutsche Behindertenpolitik gar nicht mehr mein Alltag – außer wenn ich alle paar Wochen in Deutschland bin und mal wieder kein barrierefreies Hotelzimmer kriege oder die nicht vorhandene barrierefreie Toilette suche, erinnere ich mich daran, warum es dieses Blog noch gibt.

Wer die Diskussionen der letzten Tage auf Twitter oder in Blogs verfolgt hat, dem wird klar sein, dass sich nicht einmal die Leute, die behindertenpolitisch unterwegs sind, einig darüber sind, wohin die Reise gehen soll. Und was mich am meisten nervt: Viele Leute, die das Thema gerade schick finden, reden nur, wollen vielleicht mit dem Thema auch noch irgendwie Geld abstauben, aber konkret wird nichts gemacht. Damit meine ich vor allem Politiker, die regelmäßig Solidaritätsbekundungen twittern und das Thema besetzen wollen, aber noch nicht einen Antrag zu dem Thema in ihrem Parlament eingebracht haben oder das grundsätzlich nur tun, wenn sie gerade in der Opposition sind. You know who you are.

Ich könnte Sascha Lobo dafür knutschen, dass er auf der re:publica dazu aufgerufen hat, wieder mehr zu bloggen. Das war ein guter Weckruf an mich und daran erinnerte ich mich als ich vorhin dachte “Macht doch, was Ihr wollt in Deutschland. Ich lebe hier im Land des sozialen Modells von Behinderung, mit einem ordentlichen Antidiskriminierungsgesetz, integrativer Beschulung und höherer Beschäftigungsquote behinderter Menschen. Ich nerve jetzt noch ein bisschen die Verkehrsbetriebe von London und schaue in 10 Jahren mal nach, ob Ihr endlich mal geschafft habt, wenigstens 50 Prozent aller behinderter Kinder integrativ zu beschulen.”

Nein, zu früh gefreut. Das mache ich nicht. Aber Ziele zu formulieren, ist keine schlechte Idee. Die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen kann doch nicht ständig so vertagt werden, wie die Eröffnung des Berliner Flughafens.

Das Internet vergisst ja sehr wenig und auch deshalb ist es gut, dass es Blogs gibt. Denn ich finde, man muss endlich mal die Taten sprechen lassen und nicht immer nur schwätzen. Deshalb habe ich mir überlegt, ich formuliere einfach mal 10 Maßnahmen, die mir wichtig sind, an denen man objektiv messen kann, ob Deutschland wirklich etwas ändert oder alle immer nur Sonntagsreden halten. Wie weit man mit der Erreichung dieser Ziele gekommen ist, werde ich jedes Jahr nach der re:publica in einem Blogeintrag überprüfen. Entscheidungsträger, Politiker und andere, rufe ich gerne dazu auf, positive Beispiele der Veränderung in den Kommentaren zu hinterlassen.

Wenn es mit der Inklusion behinderter Menschen in allen Lebensbereichen voran gehen soll, sind meiner Ansicht nach folgende Maßnahmen unumgänglich:

  • 1. Ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz mit Schadensersatzanspruch und Anspruch auf Beseitigung mit Klagerecht im Falle eines Verstoßes. Das Gesetz muss alle Lebensbereiche abdecken und private Einrichtungen einschließen. Ziel muss sein, dass kein behinderter Mensch aufgrund seiner Behinderung, einen schlechteren Service bekommt als ein nicht behinderter Mensch. Das schließt z.B. den Anspruch ein, Assistenzhunde überall hin mitnehmen zu dürfen.
  • 2. Ein Masterplan zur schulischen Integration behinderter Kinder mit einem Anspruch auf angemessene Förderung und Assistenz muss her. Derzeit gehen 80 Prozent aller behinderter Kinder auf Sonderschulen. Die meisten behinderten und nicht behinderten Kinder würden davon profitieren, wenn sie gemeinsam zur Schule gehen würden. Kinder, die nicht im Klassenverband unterrichtet werden können, müssen alternative Angebote bekommen.
  • 3. Eine Änderung des Rundfunkstaatsvertrages, die die Fernsehanstalten zu einer vollständigen Untertitelung ihres Programms verpflichtet, wie es bereits in den USA oder Großbritannien der Fall ist, muss her. Zugleich sind Vorgaben zu definieren, was die Audiodiskription und die Übersetzung in Deutsche Gebärdensprache angeht. Die Einhaltung muss durch staatliche Stellen überprüft und ggf. geahndet werden.
  • 4. Das Recht auf selbstbestimmtes Leben muss in Gesetzen festgeschrieben werden. Dafür bedarf es eines Anspruchs auf persönliche Assistenz (z.B. Pflege, Kommunikationshilfe etc.) im Bedarfsfall unabhängig vom persönlichen Einkommen oder des Einkommens der Familie.
  • 5. Die Antragstellung für Hilfsmittel und Assistenz im Berufsleben ist viel zu kompliziert und langwierig. Das führt dazu, dass behinderte Menschen große Hürden haben, überhaupt arbeiten zu gehen. Es findet ein Verschiebebahnhof zwischen Kostenträgern statt und es wird einem ständig signalisiert, dass man besser nicht arbeiten sollte. Es sollte eine zentrale Stelle geschaffen werden, über die sämtliche Anträge laufen. Der Topf, aus dem Assistenz gezahlt wird, darf nicht gedeckelt werden.
  • 6. Deutschland braucht Maßnahmen und Programme, um die bisherige Sozialisation und Ausgrenzung behinderter Menschen zu überwinden. Dafür bedarf es Geld und die Bereitschaft aller, etwas ändern zu wollen. Das geht nicht ohne die Behindertenverbände, die sich mehrheitlich entscheiden müssen, ob sie Freizeitvereine sind und bleiben wollen, oder ob sie nicht doch politische Interessenverbände sind. Dazu gehört dann eine professionelle Kommunikation nach außen und eine klare politische Zielrichtung.
  • 7. Es müssen ordentliche Statistiken geführt werden, was die Inklusion behinderter Menschen angeht. Nur so kann überhaupt analysiert werden, wo die Probleme liegen. Wieviele Sportvereine haben behinderte Mitglieder? Wie viele Bewerber mit Behinderung hat ein Großkonzern? Wieviele stellt er davon ein? Wieviele behinderte Menschen nehmen an staatlich finanzierten Programmen / Veranstaltungen / etc. teil? Erreichen wir die Gruppe überhaupt?
  • 8. Das Strafrecht muss dringend reformiert werden. Kein Strafmaß darf geringer ausfallen, nur weil das Opfer eine Behinderung hat. Stattdessen muss der etwaigen Diskriminierung des Opfers aufgrund der Behinderung stärker Rechnung getragen werden.
  • 9. Der Zugang zu Bildung und Information ist auch für behinderte Menschen ein Grundrecht. Deshalb muss in Gesetzen sichergestellt werden, dass jeder Mensch Informationen in einer für ihn zugänglichen Form (z.B. elektronisch, in Gebärdensprache, Braille etc.) erhält – sowohl im staatlichen als auch im privatwirtschaftlichen Bereich.
  • 10. Die Erfolge sind jährlich zu überprüfen und in einem Bericht der Bundesregierung und aller Landesregierungen dezidiert darzulegen.

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